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Die Wolken schoben sich weiter, die Fetzen einer Sonne ließen sich hinter dem Wolkenteppich erahnen. L. starrte auf die helle Lichtkugel über ihm, hörte das Grillenzirpen und spürte das Gras unter sich. Wie die Halme ihn in den Rücken stachen, wie es statisch knisterte, wenn er sich bewegte. Immer wieder im Abstand von mehreren Minuten hörte er Autos neben sich herfahren, eine sehr schöne Vorstellung war das, dachte L., im echten Gras zu liegen und echte Autos aus Metall fahren auf einer echten Straße aus Teer an ihm vorbei und, aber das fand er nicht so schön, nur ein Auto müsste ausscheren und dann wäre er tot, überfahren. Eine sehr schöne Vorstellung, wiederholte L. in Gedanken, ist das Überfahren nicht, aber sie ist deswegen schön, weil man dann wirklich tot wäre.

L. legte sich nun bäuchlings auf das falsche Gras. Bei vielen Halmen blätterte das Grün schon wieder ab und ein fahles Braun kam unter dem Grün zum Vorschein. Die Farbinformationen müssten mal wieder aktualisiert werden, dachte sich L., doch daran wollte er doch eigentlich gar nicht denken. Er wollte dran denken, wie es früher wohl mal gewesen sei, wenn Großvater F. ihn immer erzählte, wie das früher gewesen sein musste, genau wusste es F. auch nicht mehr, er sei doch schon zu alt, war seine Entschuldigung, es sei soviel passiert, er möchte schlafen. F. schlief jetzt schon seit drei Jahren in seinem Bett, nachdem er insom31 geschluckt hatte und nun in einen starreähnlichen Schlaf gefallen ist, wo er laut Dr. U. erst in zwei, drei Jahren heraus erwachen wird. Wenn er daran dachte, wurde L. kalt und er wollte nicht frösteln, auch wenn das mal eine natürliche Emotion wäre. Emotionen zu haben, ist aus der Mode gekommen. Man hat sich entwöhnt, sagen die Meisten und scheinen darüber gar nicht mal verwundert. Diese sogenannte Natur war auf dem Stand 3.234.5, bald müsste es mal wieder ein komplett neues Update geben, Natur 4 sei schon auf dem Weg, hieß es in den Laboren. Besser so, dachte L. und drehte seinen Kopf noch mal um ein paar Grad, um das falsche Gras zu beobachten. Trotz Wind stand es aufrecht und ungerührt da, es ist zum Kotzen, dachte L., wenn man wenigstens kotzen könnte. Kotzen hat man verlernt, dachte er und hörte, wie ein sehr falsch produziert klingendes Auto vorbeifuhr. Fehler in den Audio-Plugins, dachte L. Kommt vor. Nicht tragisch, mit Industrie 3.2 (avisiert für das Ende des Jahres) werden diese Kinderkrankheiten ausgebügelt sein, dachte L. Er musste es ja wissen, schließlich programmierte er nebenberuflich mit und wusste, dass die Arbeiten fast schon fertig waren, eigentlich, dachte L., könnte man 3.2 jetzt schon publizieren, die Industrie würde es einem danken, aber da gäbe es ja weniger Profit, als wenn man die Welt ein wenig drauf warten lässt und die kleinen Komplikationen im Alltag für den Profit in Kauf nimmt, war doch immer so, dachte L..

Er hörte, wie ein weiteres falsch produziert klingendes Auto vorbeifuhr, er drehte den Kopf zur Seite, Metallic fehlte hier und da und wurde durch die Grundtextur hellbraun ersetzt. Womöglich war es dasselbe falsch produziert klingende Auto, wie er es schon eben hörte, vielleicht seine Sicherungskopie, vielleicht auch das Cache, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall hielt es an und L. beobachtete im matten Morgenlicht (hier und da natürlich nicht matt, sondern schon viel zu hell, Fehler in der Uhrzeitkonfiguration, nichts Schlimmes zumindest), wie der Fahrer ausstieg. Haare fehlten und ein sonores Brummen ging von ihm aus (das Problem hatten viele, Synchronitätsfehler, nervig, aber aushaltbar), und auch der Schuppenfehler war bei dem Mann voll ausgeprägt (eigentlich Unsinn, es sieht nicht wie herabrieselnde Haarschuppen aus, was von Körpern mit Schuppen-Config-Fehlern abfällt, dachte L., sondern eher wie Staub, den man vor uralten Dingen wegbläst, doch da es keine alten Dinge mehr gibt, weiß man ja auch nicht mehr, was Staub ist). Seine Stimme klang unstet, geradzu blubbernd/dissonant, mit einem verstimmten Piano vergleichbar, welches auch nur das kaputte Imitat von etwas ist, was einmal Harmonie und Natürlichkeit ausstrahlte/ausstrahlen sollte. Er sagte: „Was machen Sie da?“ und L. brauchte erstmal eine kurze Zeit, bis er seinen Schock aufgrund der seltsamen Stimme verdaut hatte und die Frage richtig verstanden hatte, doch er hatte keine Lust, sowas Offensichtliches zu nennen („Im Gras liegen, was sonst?“), sondern konterte: „Sind Sie ein Administrator?“ – „Das war ich mal“, knarzte er. „Was jedoch nicht bedeutet, dass ich die administrative Moral und Ethik meines Berufs vergessen hätte können, ich praktiziere sie weiter. Ihr Name? Personalien? Version?“ – „L. heiße ich“, sagte L. und der Mann schrieb auf einen zerfledderten Spiralblock, welcher in der Tasche gesteckt hatte den Namen. „Ich wohne hier.“ Der Mann hielt inne, schaute ihn an. „Hier?“ – „Hier.“, sagte L. und der Mann notierte sich „Hier.“ auf seinem Block. „Version?“ – „35.3, beta.“ L. schaute auf und sah, dass ihn der Mann mit ungläubiger Faszination ansah. „Beta?“ – „Beta“, wiederholte L. (wie oft er das schon wiederholen musste, dachte L.). „D-dann sind Sie ein Privilegierter“, knarzte der Mann. „Ja, das bin ich“, antwortete L. und fügte hinzu: „Ich bin stärker als die Meisten, dafür jedoch auch innovativer und somit fehleranfälliger. Ich bin ein Prototyp.“ – „Wie nimmt man am Beta-Test teil?“, knarzte der Mann und L. entging nicht, dass Flehen in seinem Blick lag. „Das ist kein Problem, Sie müssen sich im Arbeitsplatz dafür einschreiben lassen, der Rest geht automatisiert und dann bekommen Sie eine Einladung zum Beta-Test“, sagte L. und der Mann knarzte ein „Danke für die Auskunft“. Dann war es einen Moment still, er sah in die nicht im Winde schaukelnden Baumkronen am Horizont, dann auf das sich verfärbende Gras, dann auf L. „Sie können hier nicht bleiben“, knarzte er. „Ich weiß“, sagte L. „Ich wollte es nur mal riskieren, wie lange es geht.“ – „Sie wissen doch, sowas geht nie ohne Serverprobleme von sich, schauen Sie sich Ihre Jacke an! Grün verfärbt!“, knarzte der Mann abfällig und L. musterte seine Jacke, die von einem grasgrünen Film belegt war. Dort, wo seine Jacke lag, war nur noch fahl braun schimmerndes Gras. „Das tut mir Leid“, sagte L. und der Mann knarzte: „Unverschämtheit, dass sowas wie Sie beim Beta-Test… ist das normal für Beta-Tester?“ – „Was?“ – „Das mit Ihrem rechten Bein!“ L. rollte die Augen, starrte auf sein verstümmeltes Knie. „Ja, natürlich.“ – Der Mann knarzte, dass er sich nur habe erkundigen wollen und dass er es bitte nicht persönlich nehmen solle. „Schon gut“, sagte L. „Ich fahre Sie weg von hier“, meinte der Mann nun. „Deshalb bin ich hier.“ Der Mann reichte L. seine faserige, rieselnde Hand und half ihm hoch. L. bückte sich noch einmal und nahm sein rechtes Bein, welches zuckend im Gras lag. „Continuity-Fehler“, sagte L., „kommt vor.“ Er humpelte zum kaputten Wagen, stieg ein, komisch roch es hier, dachte L. und der Mann setzte sich neben ihn und fuhr los.

„Ich fahre jetzt zum Arbeitsplatz, ich lasse Sie dort vorne raus, ok?“ – „Danke und machen Sie sich keine Gedanken wegen dem Bein!“ L. stieg aus. „Ok, einen schönen Tag noch“, knarzte der Mann. L. wollte ihn noch nach seinem Namen fragen, aber die Tür war schon zu. Doch dann kurbelte der Mann noch mal das Fenster runter und fragte: „Ist das normal beim Beta-Test, dass einem Beine abfallen?“ – „Wie gesagt“, antwortete L., „Continuity-Fehler, kommt vor. Man gewöhnt sich dran“, und der Mann meinte: „Ist ja immer so“, und L. wiederholte es: „Ja, ist immer so-„

2 Kommentare zu “uoon

  1. Finde die Kurzgeschichte ist gelungen, sowohl vom Thema als auch von der Art, wie sie geschrieben ist her( weil es passt, in einer flüssigen, längeren Erzählung wäre der Stil sonst störend).
    Gefällt besser als vorheriges, und noch dazu sehr gut ;)

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